Die Zitrone der bemannten Raumfahrt
Die einzige Konstante im Starliner-Programm des Aerospace-Giganten Boeing ist die Verschiebung. Ursprünglich geplant war eine Entwicklungszeit von sieben Jahren. Tatsächlich wurden es aber nach einer schier unfassbaren Serie von Missgeschicken, Rückschlägen und haarsträubenden Management-Fehlern 14 Jahre bis zum bemannten Flugtest. Diese entscheidende Mission, sie trägt die Bezeichnung CFT (für: Crew Test Flight), sollte nun endlich am 7. Mai beginnen.
Die Crew für diesen Einsatz besteht aus dem Kommandanten Barry „Butch“ Wilmore und der Pilotin Sunita „Suni“ Williams. Die beiden sollen die Raumkapsel in einer siebentägigen Mission auf Herz und Nieren testen. Wilmore ist 61 Jahre und hat bei seinen früheren Missionen bereits 178 Tage im Weltraum verbracht. Die 58-jährige Suni Williams verfügt sogar über 322 Tage Weltraumerfahrung aus zwei Langzeitaufenthalten auf der ISS. Beide sind Testpiloten mit tausenden Stunden Flugerfahrung.
Williams und Wilmore waren am 7. Mai gerade dabei ihre Sitze im Raumschiff einzunehmen – der Liftoff war nur noch zwei Stunden entfernt – als der Countdown wegen eines Defekts am Tankdruckregelventil der Centaur-Oberstufe der Rakete abgebrochen werden musste. Dazu kam ein Helium-Leck an einem der Lageregelungstriebwerke des Raumschiffes selbst.
Die Techniker stellten fest, dass die Sache zu komplex war, um sie direkt an der Startrampe in Angriff zu nehmen. So mussten sie die Rakete in das Montagegebäude zurücktransportieren. Dort konnte zwar das Problem an der Trägerrakete behoben werden, aber das suspekte Leck am Lagekontrolltriebwerk der Kapsel machte weiter Schwierigkeiten.
So wurde der Start auf den 25. Mai verschoben. Doch einige Tage vor dem neuen Termin musste Boeing feststellen, dass man das Problem mit dem Helium-Leck noch nicht so recht verstanden hatte, und das Unternehmen kündigte zunächst eine Verschiebung des Start auf den 10. Mai an, dann auf den 25. Mai und nun soll es der 1. Juni werden.
Wilmore und Williams sind in der Zwischenzeit längst wieder zurück in Houston, und versuchen sich dort in Form zu halten für einen Start, der vielleicht irgendwann in den nächsten Wochen doch noch stattfinden könnte.
Enttäuschungen gab es im Starliner-Programm zahlreiche. Mit den ersten Ausschreibungen für die Entwicklungsstudien im Rahmen des Commercial Crew Development Program (kurz: CCDev) im Jahre 2010 wurde ein Nachfolger für den Space Shuttle gesucht. Nach mehreren Vorentscheidungsrunden, immer weiterer Eingrenzung der Teilnehmerzahl, und immer weiter verfeinerten Entwicklungsstudien lief 2014 die Vollentwicklung an. Dafür vergab die NASA je einen Auftrag an die verbliebenen beiden Wettbewerber: Der eine, mit insgesamt 4,2 Milliarden Dollar dotiert, ging an Boeing, der andere mit 2,6 Milliarden Dollar an SpaceX . Die Aufgabe für beide: Entwicklung, Bau und Test eines Transportsystems für den Transfer von Astronauten zur Internationalen Raumstation.
Die meisten der NASA-Offiziellen und -Ingenieure, vor allem aber Boeing, plädierten dafür, nur einen Auftrag zu vergeben: Natürlich an Boeing. Ein zweiter Auftrag, vor allem an einen Neuling im Geschäft der bemannten Raumfahrt, sei zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Einer der relativ wenigen Befürworter einer Doppelentwicklung war der NASA-Direktor für bemannte Raumfahrt Bill Gerstenmaier. Er konnte es durchsetzen, zwei Wettbewerber an den Start zu bringen. Allerdings schätzte auch er die Erfolgsaussichten von SpaceX zunächst nicht sonderlich hoch ein. Nicht zuletzt deswegen gingen zwei Drittel des Geldes an Boeing mit dem Starliner-System, das verbliebene Drittel erhielt SpaceX für die Entwicklung des Crew Dragon, auch Dragon 2 genannt.
Als Datum für einen ersten Testflug ohne Besatzung wurde für beide Raumfahrzeuge das Jahr 2017 festgelegt. Danach sollte je ein bemannter Erprobungsflug erfolgen und schließlich, etwa ab 2019, sollte der geplante reguläre Transportservice für die NASA beginnen. Beide Systeme mussten in der Lage sein, standardmäßig vier Besatzungsmitglieder zu transportieren, und im Notfall, etwa im Fall der Evakuierung der Raumstation bei einem Unfall, bis zu sieben Personen.
Für die Experten blieb der Fall klar: Die Entwicklung eines relativ konservativen bemannten Raumtransportsystems würde kein Problem für den Aerospace-Giganten Boeing darstellen. Äußerst fraglich erschien es ihnen jedoch, ob SpaceX da mithalten konnte. Das Unternehmen, damals größenmäßig fast noch ein Mittelständler, galt als unerfahren, risikofreudig und kapriziös. Immerhin: SpaceX hatte 2014 schon einige erfolgreiche Frachteinsätze zur ISS mit dem unbemannten Dragon 1 durchgeführt.
Bis etwa 2016 wies die NASA in ihren Planungen und Veröffentlichungen für die Crew-Rotation zur ISS stets den Starliner als das führende Element aus. Bald gerieten beide Unternehmen mit ihrem Entwicklungsprogramm in Rückstand, doch bei SpaceX bewältigte man zur Überraschung der NASA die Schwierigkeiten schneller und effizienter als bei Boeing.
Am 20. Dezember 2019, mit zweijähriger Verzögerung, startete der Starliner zur vertraglich vereinbarten Mission OFT-1, dem unbemannten Orbital Flight Test 1. Der Einsatz war ein Fiasko. Die Kapsel war nicht in der Lage, die Internationale Raumstation zu erreichen und bei der Vorbereitung zur Landung offenbarte sich ein Software-Fehler, der beinahe zum Verlust des Raumschiffs geführt hätte. Zu diesem Zeitpunkt hatte SpaceX Boeing längst schon überholt. Deren unbemannter Testflug war bereits im März 2019 erfolgt, und überaus erfolgreich verlaufen.
Ein Missgeschick schien aber SpaceX trotzdem noch einmal aus der Bahn zu werfen, denn bei einem Bodentest der Triebwerke der Demo Mission 1-Kapsel (derselben, mit der man im März den erfolgreichen Flugtest zur ISS durchgeführt hatte) kam es im Mai 2019 zu einer Explosion, die das Raumfahrzeug komplett zerstörte. Auch mit dem Fallschirmsystem gab es Probleme, doch SpaceX konnte alle technischen Hindernisse systematisch beseitigen, und so erfolgte der bemannte Testflug des Systems schließlich im Mai 2020 mit den Astronauten Doug Hurley und Bob Behnken an Bord. Die 62-tägige Mission verlief wie geplant. Somit galt der Crew Dragon von SpaceX von Stund an als qualifiziert für den Einsatzdienst. Im November desselben Jahres startete das Raumfahrzeug dann erstmals mit einer vierköpfigen Crew für einen normalen Besatzungstransfer zur ISS.
Seither hat SpaceX 13 bemannte Missionen mit dem Crew Dragon durchgeführt und 52 Menschen in den Orbit transportiert. Zählt man die Einsätze der bis auf das Lebenserhaltungssystem weitgehend baugleichen Cargo Dragons dazu sind es sogar bereits 25 Flüge.
Während es also auf der SpaceX-Seite nach anfänglichen Schwierigkeiten planmäßig und nahezu fehlerfrei weiterging, folgte für den Starliner eine nicht enden wollende Reihe von Problemen, mit denen eine zunehmend schärfer werdende Kritik an Boeings Projektmanagement einherging.
Bei einem pad-abort-test, einem simulierten Flugabbruch von der Startrampe aus im November 2019, öffnete sich einer der drei Hauptfallschirme nicht. Im Dezember 2019 scheiterte die schon erwähnte OFT-1 Mission, so dass ein zweiter unbemannter Testflug angesetzt werden musste. Der sollte im November 2020 starten, aber zahlreiche weitere Modifikationen an der Raumkapsel zögerten diesen Termin immer weiter hinaus. Schließlich wurde er für August 2021 anberaumt. Doch nur wenige Tage vor dem Missionsbeginn, die Rakete mit der Kapsel stand bereits auf der Startrampe, entdeckte man eine Fehlfunktion im Ventilsystem der Lageregelungstriebwerke. Die Rakete wurde in das Montagebäude zurücktransportiert, die Kapsel wurde demontiert und die Fehlersuche begann.
So wurde es schließlich Mai 2022 bis die Wiederholung des unbemannten Flugtests erfolgen konnte. Wieder kam es zu einer ganzen Reihe von Anomalien. Unter anderem fielen mehrere Lageregelungstriebwerke aus, erneut aufgrund ungenügend funktionierender Ventile. Immerhin gelang dieses Mal das Anlegemanöver an der Raumstation. Nach der sicheren Rückkehr der Kapsel entdeckte man weitere Fehler am Gurtsystem der Landefallschirme und fand heraus, dass die Kabelbäume mit brennbarem Tape isoliert waren. So musste das Fallschirmsystem nachqualifiziert und die Isolierung von vielen Kilometern Kabel erneuert werden.
Ein besonderes Fiasko war die Entwicklung der Betriebssoftware für das Raumschiff. Die Verantwortlichkeiten dafür wurden über das ganze Unternehmen gestreut. Die Interaktionen zwischen den Teams waren ungenügend, die verschiedenen Teams trauten einander nicht. Die Software wurde nie vollständig komplett getestet, sondern immer nur Teilkomponenten. Es gab also keinen „end-to-end-test“.
Dieses Versäumnis führte schon unmittelbar nach dem Start zur OFT-1-Mission zu Problemen. Aufgrund einer nicht abgestimmten Software-Schnittstelle hatte das Raumschiff von seiner Trägerrakete Atlas V die falsche „Missionszeit“ übernommen, und zwar einen Zeitpunkt elf Stunden nach dem erfolgten Start anstelle der tatsächlich abgelaufenen Missionszeit von nur wenigen Minuten. Dies führte am Ende dazu, dass der Starliner nicht an der Internationalen Raumstation anlegen konnte. Ein ähnliches Schnittstellenproblem führte dazu, dass die Kapsel beim Wiedereintritt beinahe verloren gegangen wäre. Die NASA bezeichnete diesen Fehler in der Flugauswertung als „nahezu katastrophal“ (wörtlich: a high visibility close call).
Als Fehler wurde auch die Boeing-übliche Praxis erkannt, die Entwicklung und Fertigung von Subystemen zu „outsourcen“. Dieses Verfahren wendet Boeing auch in der Flugzeugindustrie an, wo es bei einem ausgereiften und in großer Zahl gebauten Serienprodukt womöglich tatsächlich sinnvoll sein mag (aber auch hier überzeugt Boeing aktuell mit zahllosen Problemen eher vom Gegenteil). Bei einem Produkt wie dem Starliner aber, der im Grunde in permanenter Entwicklung steht, und von dem überhaupt nur zwei oder drei Exemplare gebaut werden, ist dieses Vorgehen das pure Gift.
So wurde beispielsweise das gesamte Antriebssystem an Rocketdyne vergeben. Einem von vielen Dutzend Unterauftragnehmern im Starliner-Business. Wenn nun beispielsweise ein Rocketdyne-Ingenieur ein kleines Modul entwerfen wollte, das sich mit dem Servicemodul verbindet, dann musste er sich erst einmal bei Boeing über die Belastungsgrenzen, Schnittstellen und Spezifikationen informieren. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit einem Boeing-Ingenieur, einem Beschaffungsmanager, einem Manager für Qualitätskontrolle von denen jeder sein eigenes Paket an Boeing-Vorschriften hat, die eingehalten, und von deren Vorgesetzten abgesegnet werden müssen. Allein dieser Prozess kann viele Wochen dauern.
Die Ingenieure von Rocketdyne müssen diese Informationen dann ihrerseits überprüfen. Nun entwerfen sie das Modul. Dann führt jemand anderes eine Strukturanalyse durch. Sie gehen über die Einkaufsabteilung, um die Materialien für das Teil zu kaufen, und müssen sich dann an einen Fertigungsintegrator und einen Procurement-Manager wenden, um einen Lieferanten für die Fertigung zu finden, denn auch Rocketdyne ist ein klassische US-Aerospace Contractor, der mit hunderten von Lieferanten zusammenarbeitet.
Der Procurement-Manager ist aufgrund betrieblicher Vorschriften dazu verpflichtet, mindestens drei Angebote einzuholen. Am Ende dieses Prozesses haben dutzende verschiedene Personen in verschiedenen Abteilungen verschiedener Unternehmen Einfluss auf die Konstruktion des Teiles Einfluss. Dieses Vorgehen erhöht den Zeit- und Kostenaufwand dramatisch, verbessert keinesfalls die Wirksamkeit des Teiles und am Ende hat niemand das Gefühl, für den Prozess verantwortlich zu sein.
Bei SpaceX mit seiner integrierten Fertigung spielt sich das alles wesentlich effizienter ab. Alles läuft nicht nur im Haus, sondern innerhalb der Projektgruppe. Der verantwortliche Ingenieur entwirft das Teil, kauft die dafür notwendigen Teile ein, bringt sie in die Entwicklungswerkstatt nebenan und lässt die Komponente dort bauen.
Der Ruf Boeings ist auch außerhalb des Raumfahrtbereichs erheblich ramponiert. Dazu beigetragen haben die Probleme mit der Boeing 737 Max, die zu zwei Abstürzen mit mehr als 300 Toten führten, oder die Geschichte mit dem herausgebrochenen Seitenpaneel einer weiteren, brandneuen Boeing 737 Max, das sich während eines Alaska-Airlines-Fluges im Januar dieses Jahres zutrug. Nicht erst seit dieser Zeit gilt Boeing als schlecht gemanagtes Unternehmen, das eher an gut frisierten Quartalsberichten interessiert ist, denn an technischer Perfektion.
Während der jahrelangen Wartezeit wurden immer wieder Crew-Mitglieder für die CFT-Mission und den Starliner 1-Einsatz ausgewählt, dann wieder abberufen und neue ernannt. Sie traten aus privaten Gründen zurück wie Chris Ferguson, oder aus gesundheitlichen Ursachen wie Eric Boe. Am schlimmsten erwischte es Jeanette Epps. Sie wurde im 2020 als Besatzungsmitglied für den Flug Starliner 1 bestimmt. Dann begann die Wartezeit. Während andere Astronauten wie etwa Nicole Mann oder Victor Glover in der immer länger werdenden Zeit des Wartens schließlich von dieser Mission abgezogen wurden, blieb Jeanette Epps als einzige Jahr für Jahr weiter für Starliner 1 nominiert. Schließlich hatte die NASA im August vergangenen Jahres endlich ein Einsehen, und teilte sie der Mission SpaceX Crew 8 zu. Seit 4. März ist sie nun an Bord der ISS, die sie mit einem Crew Dragon erreicht hat, und wird dort hoffentlich vor Ort erleben wie endlich auch der Starliner Menschen zur Raumstation bringt.
Als Trägerrakete des Starliner kommt die Atlas 5 N22 zum Einsatz. Alle sieben Erststufen und die speziell benötigte Version der Centaur-Oberstufe, die für das Programm bis Anfang 2030 benötigt werden, sind bereits produziert und liegen „auf Halde“. Sind sie verbraucht, dann hat die United Launch Alliance keinen Träger mehr für Boeings Starliner zur Verfügung, es sei denn, der Nachfolger der Atlas, die Vulcan-Rakete, wird bis dahin für bemannte Einsätze qualifiziert. Das allerdings ist ein mehrjähriger, kostenintensiver Prozess. Derzeit ist offen, ob Boeing gewillt ist, den Starliner nach Erfüllung des Vertrages mit der NASA weiter zu betreiben um ihn, ähnlich wie SpaceX den Crew Dragon, auch kommerziell einzusetzen.
Die Kosten für die Verzögerungen und Modifikationen musste Boeing weitgehend alleine auffangen, denn die Entwicklungsverträge für den Crew Dragon und den Starliner wurden von der NASA auf Festpreisbasis vergeben und nicht wie bis dahin üblich auf Basis von Selbstkostenerstattung. Allerdings ist es Boeing gelungen der NASA noch eine zusätzliche Finanzspritze von 287 Millionen Dollar abzutrotzen, nachdem das Unternehmen schon 2016 angedroht hatte, aus dem Vorhaben auszusteigen. Dennoch geht man davon aus, dass Boeing mit dem Starliner ein Verlust von etwa 1,5 Milliarden Dollar entstanden ist.
P.S. Am 1. Juni 2024 hätte es beinahe geklappt. Trotz einer ganzen Reihe von kleineren Detailproblemen erreichte der Countdown einen Zeitpunkt von nur noch dreieinhalb Minuten vor dem Liftoff. Doch dann kam der Ruf des Flugdirektors: „Hold. Hold. Hold“. Das Problem diesmal: Ein fehlerhaft arbeitender „Ground Launch Sequencer“. Es lag also dieses Mal nicht am Starliner, sondern an der Trägerrakete, respektive dem Bodenequipment dafür. Ein neuer Startzeitpunkt steht noch nicht fest.
Ein Beitrag von Eugen Reichl
Titelbild „An der Startrampe“ | Credit: NASA