Retrospektive 2023 und der Blick in die Glaskugel
Bevor wir jetzt gleich darüber räsonieren, was uns an bedeutenden Raumfahrtereignissen im Jahr 2024 erwartet, will ich noch einen kleinen Blick auf das eben abgelaufene Jahr 2023 zurückwerfen. Was waren für mich ganz persönlich (andere mögen das anders sehen) die bemerkenswertesten Raumfahrtereignisse der vergangenen zwölf Monate?
Es gab 2023 weltweit 223 Starts. Davon verliefen 211 erfolgreich. Beschämenderweise waren nur ganze drei davon europäischen Ursprungs, denn nach dem Ende der Dienstzeit der Ariane 5 und dem „Grounding“ der Vega und der Vega C steht Europa nun ohne eigene Trägerkapazität da. Immerhin wurden aber dennoch zwei wichtige europäische Raumsonden gestartet: Eine davon – die Jupitersonde JUICE – am 14. April mit der vorletzten Ariane 5, und eine weitere, die Astronomiesonde Euclid, mit einer Falcon 9 von SpaceX am 1. Juli.
116 Starts wurden von den USA durchgeführt (wobei die USA hier immer Rocket Lab in ihre Rechnung mit einbeziehen, obwohl deren überwiegende Leistung in Neuseeland erfolgt). 109 davon waren erfolgreich.
Die USA wären aber nichts ohne SpaceX. Dieses Unternehmen führte (die Starship-Testflüge zähle ich hier nicht dazu) alleine 96 Orbitalstarts durch, die ausnahmslos alle erfolgreich verliefen. Dabei brachte das Unternehmen mehr als 1.000 Tonnen Nutzlast in den Orbit, darunter fast 2.000 Starlink-Satelliten.
Schauen wir uns nun meine persönlichen Top-Ten des Jahres 2023 an. Passend zum Thema Raumfahrt in Form eines Countdowns heruntergezählt, mit der Nummer 1 als dem für mich bedeutendstem Ereignis.
Meine Top Ten des vergangenen Jahres waren…
10.
…das bedauerliche Ende des Falcon 9-Boosters 1058 am 27. Dezember. Mehrere Museen hatten schon den Finger gehoben, um diese legendäre Erststufe nach dem Dienstende in ihre Ausstellung zu bekommen. Doch daraus wird nun nichts, denn Booster 1058 kippte wenige Tage nach ihrem 19. Einsatz, beim Rücktransport nach Port Canaveral in schwerer See und stürmischem Wind kurz vor der Einfahrt in den Hafen über Bord ihres Bergungsschiffes. Besonders bekannt wurde diese Erststufe durch die so genannte „Demo 2-Mission“ im Mai 2020, bei der die Astronauten Doug Hurley und Bob Behnken erstmals wieder einen bemannten Raumflug von US-Territorium aus durchführten. Bekannt ist sie auch, weil sie als einziger Booster der SpaceX-Flotte das so genannten „Worm-Logo“ der NASA trug, wenngleich das mit steigender Flugzahl und damit zunehmender Verkokelung der Außenhaut immer weniger zu erkennen war.
9.
Es gab in 2023 sechs bemannte Orbitalmissionen. Zwei wurden mit der russischen Sojus geflogen, vier mit dem Crew Dragon von SpaceX. Die für mich bemerkenswerteste Mission war die von Axiom 2 am 21. Mai mit der legendären Peggy Whitson als Kommandantin, sowie John Shoffner, Ali Alquarni und Rayyana Barnawi. Dieser Einsatz war ein Vorreiter der privat-kommerziellen Raumstationsmissionen, die in Zukunft immer breiteren Raum gewinnen werden.
8.
Am 13. Oktober startete auf einer Falcon Heavy von SpaceX die Raumsonde Psyche zum gleichnamigen Metallasteroiden in den Asteroiden-Hauptgürtel.
7.
Der Absturz von Luna 25 auf dem Mond nach 25jähriger Planung und elf Jahre nach Baubeginn aufgrund eines „saudummen“ Programmierfehlers. Der Absturz von Luna 25 ist ein Symbol für den tiefen Fall, den die die russische Raumfahrt in den letzten Jahren erlebt. Einst über Jahrzehnte stolze weltweite Nummer 1 wird sie heute nach unten durchgereicht. Für einige Jahre wird sie noch Position drei halten, bis sie gegen Ende des Jahrzehntes von Indien überholt werden wird.
6.
Am 14. April startete die europäische Raumsonde JUICE (der JUpiter ICy Moons Explorer) auf der vorletzten Ariane 5 zu ihrer langen Reise zum Jupiter. Im Juli 2031 soll sie ihn erreichen.
5.
Der Vorbeiflug der Raumsonde Lucy am Asteroiden Dinkinesh und die Entdeckung seines Doppelmondes, der ein so genannter „Contact-Binary“ ist. Erstmals wurde dabei ein solches Objekt fotografiert.
4.
Die (gerade noch eben, fast wäre sie daneben gegangen) erfolgreiche Landung der Rückkehrkapsel von OSIRISRex am 24. September mit Bodenproben des Asteroiden Bennu.
3.
Die erfolgreiche Landung der indischen Mondsonde Chandraayan 3 in der Nähe des Kraters Manzinus U am 23. August, nur vier Tage nach dem Absturz von Luna 25. Indien war damit die vierte Nation, der eine unbemannte Mondlandung gelang.
2.
Der erste Testflug des Starship am 20. April, auch IFT-1 genannt (für Integrated Flight Test 1) und…
1.
Der zweite Testflug des Starship am 18. November. Ich bewerte den zweiten Flug deshalb höher, weil er sehr viel besser geklappt hat, als der wahrhaft glorios gescheiterte, superspektakuläre IFT-1 Flug.
Es hätte noch vieles mehr gegeben, was andere vielleicht mit einer höheren Priorität bedacht hätten als ich. Nur zwei Beispiele: Es gab nicht weniger als sieben Erstflüge neuer Orbitalträger, meist kleinerer Feststoffraketen, aber auch technologisch anspruchsvoller Träger wie der chinesischen Zhuque 2, und Frank Rubio stellte einen neuen Dauerflugrekord für westliche Raumfahrer auf und verbrachte 371 Tage am Stück auf der ISS.
Werfen wir nun den Blick in die Glaskugel und schauen, was uns 2024 erwartet, oder besser gesagt, erwarten KÖNNTE. Und hier gehen wir – so ungefähr wenigstens – chronologisch in zehn Punkten vor. Auf einige Highlights können wir uns bereits in wenigen Tagen freuen:
- Für den 8. Januar ist der Erstflug der Vulcan-Trägerrakete der United Launch Alliance geplant. An Bord befinden sich mehrere Nutzlasten, unter anderem der Peregrine-Mondlander von Astrobotic Technology. Die Verzögerungen im Vulcan-Programm dauerten fast so lange, wie bei der Ariane 6, wobei man dazu sagen muss, dass die US-Rakete das technologisch wesentlich anspruchsvollere Produkt ist. Vulcan ist die Nachfolgerin der Atlas 5 und der Delta 4 Rakete. Sie verfügt über fortschrittliche Fähigkeiten (wie etwa die Langzeitkühlung ihrer Wasserstofftanks) und ist in der Lage in der schwersten Variante eine Nutzlast von bis zu 7,7 Tonnen direkt in einen geostationären Orbit zu verfrachten.
- Der erste bemannte Start des Jahres soll am 17. Januar oder bald danach erfolgen. Es handelt sich dabei um die Mission Axiom 3, bei der auch der schwedische ESA-Astronaut Markus Wandt mit an Bord sein wird. Kommandant ist der überaus erfahrene Michael López-Alegria, der damit zu seinem sechsten Raumflug starten wird.
- Geht alles glatt, dann können wir am 19. Januar die Landung des japanischen SLIM-Landers (für: Smart Lander for Investigating Moon) erleben. Er soll im Krater Shioli niedergehen, der einen Durchmesser von nur 270 Metern Durchmesser aufweist und innerhalb des wesentlich größeren Cyrillus-Kraters liegt. Die SLIM-Mission ist vor allem deshalb sehr ambitioniert, weil sie eine Präzisionslandung mit einer Zielabweichung von weniger als 100 Metern durchführen soll. Sollte der Einsatz erfolgreich verlaufen, dann wäre Japan nach der Sowjetunion, den USA, China und Indien das fünfte Land, dem so etwas gelingt.
- Wir können in diesem Jahr mehrere Testflüge, vielleicht bis zu fünf, mit dem Starship von SpaceX erwarten. Der erste dieser Flüge (und damit der dritte insgesamt) könnte bereits gegen Ende Februar erfolgen. Manche dieser Missionen werden aufgrund von Elons Musks iterativem Entwicklungsprozess spektakulär scheitern, aber andere sollten gelingen. Als erstes dran – für IFT-3 – sind “Ship 28” und der “Booster 10”, die ihre Probebrennläufe auf dem Startsockel von Boca Chica noch im Dezember 2023 absolviert haben.
- Klappt am 8. Januar (oder kurz danach) der Start der neuen Vulcan-Rakete, dann könnte es am 23. Februar einen Mondlandeversuch mit dem Peregrine-Lander von Astrobotic geben. Das Gerät soll 20 Nutzlasten tragen, sowie einen kleinen Rover namens Iris, der von der Carnegie Mellon Universität entwickelt wurde und fünf Mini-Rover, die von der Mexikanischen Raumfahrtagentur stammen. Die Landung soll nahe dem Mons Gruithuisen Gamma erfolgen.
- Für Mitte April ist – nach schier endlosen Verzögerungen – der erste bemannte Einsatz des Boeing-Starliner geplant. Die achttägige Mission dieses wiederverwendbaren bemannten Raumfahrzeugs wird von Butch Wilmore und Suni Williams geflogen. Der Testflug beinhaltet einen etwa fünftägigen Kurzbesuch der Internationalen Raumstation. Die Kapsel wird auf einer Atlas 5 der United Launch Alliance zu dieser Mission starten.
- Die vielleicht interessanteste bemannte Mission des Jahres 2024 ist Polaris Dawn, ein von Jared Isaacman privat organisierter Flug mit massiver Unterstützung durch SpaceX. Isaacman und seine drei Mitflieger (zwei Angestellte von SpaceX, ein ehemaliger Kampfpilot) werden in einem Dragon-Raumschiff mehrere Tage im Erdorbit verbringen und dabei versuchen, den bisherigen Erdorbit-Höhenrekord für bemannte Missionen (er steht seit Gemini 11 im Jahre 1966 bei 1.368 Kilometern) zu brechen. Erstmals soll bei diesem Einsatz auch eine private Crew ein Außenbordmanöver durchführen. Dieser spannende Einsatz könnte etwa im Mai erfolgen.
- Den Start für China’s Chang’e 6-Mission dürfen wir aus derzeitiger Sicht für den Mai erwarten. Die chinesische Raumsonde ist die mit weitem Abstand anspruchsvollste der 2024er-Mondflüge. Es wird eine Probenrückführmission aus dem Aitken Becken des Südpols sein, und zwar auf dessen erdabgewandter Seite. China erhofft sich von der Mission etwa zwei Kilogramm Mondmaterial.
- Der Dream Chaser von Sierra Nevada Space soll noch im ersten Halbjahr seinen Erstflug zur ISS unternehmen. Er wird beim zweiten Flug der Vulcan-Rakete der United Launch Alliance an Bord sein. Der Dream Chaser ist ein wiederverwendbarer Mini-Shuttle für die – zunächst – unbemannte Versorgung der ISS, zu der er eine Nutzlast von etwa fünf Tonnen transportieren kann. Er ist außerdem in der Lage eine beträchtliche Fracht von der ISS zur Erde zurückzubringen.
- Am 6. Oktober plant die NASA die Raumsonde “Europa Clipper“ an Bord einer Falcon Heavy auf den Kurs zum Jupiter zu bringen. Dort ankommen soll sie am 11. April 2030. Einmal in die Jupiter-Umlaufbahn eingeschwenkt wird sie in den darauf folgenden Jahren mindestens 50 nahe Vorbeiflüge am Jupitermond Europa durchführen, manche nur 25 Kilometer über seiner Oberfläche.
Das Jahr 2024 ist derart vollgestopft mit interessanten Raumfahrtereignissen, dass wir unsere Top-10-Liste mindestens dreimal mit den unterschiedlichsten spannenden Missionen auffüllen könnten. So sind beispielsweise nicht weniger als neun bemannte Orbitmissionen zu erwarten. Zwei mit der Sojus, zwei mit Shenzhou und fünf mit dem Crew Dragon von SpaceX
Auch der Erstflug Ariane 6 ist, nach einer Verzögerung von etwa fünf Jahren, für einen Zeitraum geplant, der irgendwo zwischen dem 15. Juni und dem 31. Juli liegen soll. Wollen wir hoffen, dass es in diesem Jahr endlich klappt.
Interessant wird der Fortgang des indischen Gangayaan-Programms, mit dem das Land zu den Ländern mit bemannter Raumfahrt aufschließen will. Hier finden in diesem Jahr drei entscheidende, noch unbemannte, Testflüge statt.
Mitte Februar öffnet sich das Startfenster für den IM-1 Lander von Intuitive Machines, der in der Nähe des lunaren Südpols im Krater Malapert A niedergehen soll. Der Start wird mit einer Falcon 9 von SpaceX durchgeführt. SpaceX ist auch an den Forschungsaktivitäten des IM-1-Landers beteiligt und erhofft sich Inputs für sein Lunar Starship. Die Landung auf dem Mond soll bereits sechs Tage nach dem Start von der Erde erfolgen. IM-1 und Peregrine könnten somit im Abstand von nur wenigen Tagen auf dem Mond landen.
Einige bedeutende, und an sich für dieses Jahr avisierte Ereignisse, habe ich ebenfalls nicht in meinen Top Ten, denn ich glaube nicht daran, dass es die Protagonisten tatsächlich vor dem 31. Dezember 2024 schaffen werden.
Der Jungfernflug des New Glenn von Blue Origin sollte eigentlich noch zum Jahresende hin stattfinden. Wahrscheinlich wird das aber erst Anfang 2025 der Fall sein. Beim Erstflug dabei ist die EscaPADE-Marsmission der NASA.
Auch die Mondlander Blue Ghost von Firefly und VIPER von Astrobotic sind auf der Startliste für 2024. Sie werden es nicht bis zum Jahresende schaffen und in 2025 hineinrutschen.
Auch nicht sehen werden wir in diesem Jahr die Artemis 2-Mission der NASA. Derzeit ist die neuntägige Mondumrundung mit vier Astronauten für November geplant. Es würde mich aber stark wundern, wenn das die NASA tatsächlich wuppen sollte. Selbst Januar oder Februar 2025 wären für diese Mission noch ziemlich ambitioniert. Artemis 2 wird nicht in eine Mondumlaufbahn eintreten, den Erdtrabanten aber in weitem Bogen umfliegen. Der geringste Mondabstand wird bei etwa 10.300 Kilometern liegen. Es wird die erste bemannte Mondmission seit dem Dezember 1972 werden.
Ein Beitrag von Eugen Reichl