Abschied vom Weltraum

27 Jahre war die Ariane 5 im Einsatz. Während dieser Zeit symbolisierte sie Europas garantierten Zugang zum Weltraum. Mit ihrem Abschiedsflug am 5. Juli 2023 krönte sie eine durchwachsene Karriere von 117 Missionen. Das Zuverlässigkeitswunder, als das sie von der PR-Abteilung der Arianespace lange Zeit mit peinlichen Elogen bejubelt wurde, war sie aber nie. Ein bisschen mehr Bescheidenheit hätte ihr gut zu Gesicht gestanden.

Ich habe den Erstflug der Ariane 5 am Nachmittag des 4. Juni 1996 noch in guter Erinnerung. Nicht in Kourou, sondern im großen Konferenz- und Vortragsraum der ArianeGroup (seinerzeit DASA) in Ottobrunn, beobachtete ich zusammen mit einigen hundert Projektingenieuren, Technikern und interessierten Kollegen gespannt die Direktübertragung aus Französisch Guyana.

Ich erinnere mich noch genau an den Jubel, als sich die Rakete von der Startanlage löste, das Stöhnen, das durch die Menge ging, als die Rakete nach 37 Flugsekunden explodierte und die minutenlange betretene Stille danach. Zuversichtlich wie man war, hatte man vier teure Forschungssatelliten der ESA unter die Nutzlastverkleidung gepackt. Deren Trümmer, zusammen mit denen der Rakete, lagen jetzt im Dschungel von Französisch-Guyana.

Aber man berappelte sich. Na gut, oder auch nicht gut, es war ein glatter Fehlschlag. Kann ja bei einem Erstflug passieren. Immerhin scheitern 50 Prozent aller Erstflüge von orbitalen Trägerraketen, und immerhin hatte Europa ja noch die Ariane 4, die in jenem Jahr bei neun Einsätzen neunmal erfolgreich flog.

Auch der zweite Flug, fast 17 Monate nach dem Erstflug-Desaster, war alles andere als eine Vorzeigemission. Die Rakete mit ihren vier Satelliten an Bord explodierte jetzt zwar nicht mehr unmittelbar nach dem Abheben, aber sie strandete in einer deutlich zu niedrigen Umlaufbahn. Machte aber nicht so viel, denn Europa hatte ja noch die Ariane 4, die im Jahr 1997 bei jeder ihrer elf Missionen erfolgreich war.

Erst noch einmal ein Jahr später klappte es dann bei der dritten Ariane 5-Mission. Danach begann eine kurze Serie erfolgreicher Flüge. Aber schon am 12. Juli 2001 kam es zur nächsten massive Fehlfunktion, die seinerzeit zum „Teilerfolg“ hochstilisiert wurde. Erneut strandete die Ariane 5 auf einer wesentlich zu niedrigen Bahn. Zwei Satelliten waren an Bord. Einer musste als Totalverlust sofort abgeschrieben werden, der andere, ein Technologiedemonstrator der ESA namens Artemis, verfügte über ein experimentelles Ionentriebwerk. Das hievte Artemis in einer viele Monate langen Aktion am Ende doch noch in den vorgesehenen Orbit. Dieser Teilversager war nicht schön, aber immerhin verfügte die Arianespace ja  noch über die Ariane 4, die im Jahr 2001 sieben sehr erfolgreiche Einsätze absolvierte.

Auch am 11. Dezember 2002 saß ich wieder im Ottobrunner Vortragssaal und sah mir die Übertragung vom Erstflug der neuen Version der Ariane 5 an, der Ariane 5 ECA. Es war zwei Wochen vor Weihnachten und kurz nach Mitternacht mitteleuropäischer Zeit. Und wieder war ich Zeuge des Scheiterns.

Die neu konstruierte Düsenverlängerung hatte den dynamischen Lasten nicht standgehalten, bekam einen Riss, die heißen Gase strömten seitlich aus der Düse und warfen die Rakete drei Minuten nach dem Liftoff aus dem Kurs. Der Gesamtschaden betrug 630 Millionen Euro, die beiden Kommunikationssatelliten Hotbird 7 und Stentor versanken im Atlantik. Doch auch in diesem Jahr 2002 rettete die Ariane 4 die Bilanz der Arianespace mit elf fehlerlosen Einsätzen.

Danach flog die Ariane 5 mehr als 20 Jahre lang fehlerlos. Oder fast fehlerlos, wäre da nicht der ebenso peinliche wie absurde Vorfall vom 25. Januar 2018 gewesen. Der Liftoff verlief einwandfrei, doch kundige Beobachter am Strand von Kourou wunderten sich schnell, warum die Rakete nicht wie üblich genau nach Osten aufs Meer hinausflog, sondern gleich nach dem Verlassen der Startrampe nach rechts abbog, und über die Köpfe der Beobachter in Richtung Süden entschwand.

In den Minuten danach berichtete der Startkommentator seinen Zuhörern minutenlang über eine Abfolge von Kontaktaufnahmen entlang der nominalen Flugroute, die allesamt gar nicht stattfanden. Es las einfach nur seine zuvor aufgeschriebenen Notizen ab. Kundige Beobachter der Startübertragung konnten aber an den ratlosen Gesichtern und hektischen Gesten der Ingenieure im Kontrollraum feststellen, dass etwas nicht stimmte.

Die Vermutung wurde zur Gewissheit, als Stéphane Israël, der CEO von Arianespace, ans Mikrofon trat, reuig den Fehlschlag der Mission meldete und die Kunden um Entschuldigung bat. Die beiden Satelliten an Bord, SES 14 und Alyahsat, seien verloren, so verkündete er. So sorry.

Waren sie aber nicht. Die wackere Ariane 5 hatte die beiden Raumfahrzeuge auch ohne jeden Kontakt mit ihrer ratlosen Kontrollmannschaft inzwischen sicher im Orbit abgesetzt. Nach einer ganzen Weile meldeten sich die zwei Satelliten bei ihren jeweiligen Kontrollzentren und führten Israëls Statement ad absurdum.

Allerdings war die Bahn, auf der sie am Ende gelandet waren, die falsche. Es kostete die beiden Satelliten einiges an Treibstoff (zu Lasten ihrer Lebensdauer), in die korrekte Bahn überzuwechseln. Immerhin: sie waren dazu in der Lage, und konnten bald danach ihren regulären Dienst antreten.

Was war geschehen? Es war einer der ersten Flüge, der unter der Ägide der ArianeGroup stattfand. Im Bestreben, Kosten zu senken, hatte man einen der Kontroll-Loops im Vorfeld des Starts eliminiert. Dabei war den Verantwortlichen entgangen, dass die Steuerungssoftware der Rakete die Flugdaten der vorausgegangenen Mission im Speicher hatte, die man per „Copy & Paste“ übernommen hatte.

Wie gesagt: Die brave Ariane 5 funktionierte an diesem Tag (fast) fehlerlos, und konnte nichts dafür, dass auch diese Mission am Ende nur als „Teilerfolg“ gewertet werden konnte. Die Rakete leistete perfekte Arbeit, man hatte sie nur auf den falschen Kurs geschickt.


Vor und nach diesem seltsamen Vorfall hat man ihr mit die teuersten Nutzlasten in der Geschichte der Raumfahrt anvertraut, darunter XMM-Newton, Envisat, Rosetta, Herschel, Planck und JUICE und insgesamt fünf ATVs für die Versorgung der Internationalen Raumstation. Mit ihrer Fähigkeit, eine Nutzlast von mehr als zehn Tonnen in einen geostationären Transferorbit zu bringen, hatte sie auf dem kommerziellen Markt ein Alleinstellungsmerkmal.

Aber trotz der zuletzt doch noch erreichten Reputation (der präzise Start des James Webb Space Telescope hat viel dazu beigetragen) ist sie nie die „zuverlässigste Rakete der Welt“ gewesen, mit der sie über Jahre hinweg von der großmäuligen PR-Abteilung der Arianespace angepriesen wurde. 96 Prozent reichten dafür einfach nicht aus. Sie war vielleicht zuverlässiger als die russische Proton, oder die ukrainische Zenit. Das ja. Aber die zuverlässigste Rakete der GANZEN WELT? Das wäre sie gewesen, hätte es die Delta, die Atlas und die Sojus nicht gegeben. Aber immerhin war sie nur geringfügig weniger zuverlässig, als die japanische H2A oder die chinesische Langer Marsch 3B.

Wie auch immer: das ist nun alles Geschichte. Denn Fakt ist: So schlecht wie jetzt ist Europas Trägerraketenindustrie seit den 70er-Jahren nicht mehr dagestanden. Wir schreiben das Jahr 2023, sind also eigentlich irgendwo in der Zukunft angekommen, und Europa hat keinen eigenen Zugang zum Weltraum mehr.

Der jetzige Zustand ist vor allem auch eine Geschichte des Scheiterns der ESA, deren Gründungsanspruch vor 48 Jahren auch und vor allem die Sicherstellung des unabhängigen Zugangs Europas zum Weltraum war. Im Übrigen ist an diesem Anspruch auch schon ihre Vorgängerorganisation ELDO gescheitert, damals mit einer Rakete, die den Namen „Europa“ trug.

So wie es jetzt aussieht, wird die Ariane 6 nicht vor Sommer 2024 fliegen, gut vier Jahre nach dem einstmals geplanten Datum für den Jungfernflug. Von der ArianeGroup bekommt man ohnehin längst keine Termine mehr für einen möglichen Erstflug. Der Eindruck entsteht, dass man da inzwischen aufgegeben hat. Viele kritische Tests stehen noch aus, und wer kann schon garantieren, dass die alle zur Zufriedenheit verlaufen werden?


Dass es da zu Problemen kommen kann, sieht man an Europas zweiter Trägerrakete, der von Avio gebauten Vega.

Im Dezember 2022 scheiterte der zweite Start der Vega-C-Rakete, was zum Verlust zweier Pléiades-Neo-Satelliten von Airbus führte. Eine Untersuchungskommission fand heraus, dass eine fehlerhafte Innenbeschichtung des Düsenhalses der zweiten Stufe die Ursache für den Ausfall war. Um das Fahrzeug wieder für den Flugdienst zu zertifizieren, verlangte die unabhängige Untersuchungskommission von Avio, mit der überarbeiteten Düse einen statischen Brennlauf als Demonstration durchzuführen. Der fand 28. Juni statt – und scheiterte. Nach 40 von geplant 97 Sekunden Brennzeit kam es zu einem noch ungeklärten Druckabfall. Damit ist klar: Mit der Rückkehr der Vega C in den Einsatzbetrieb noch in diesem Jahr wird das nix mehr. Im Frühjahr 2024 vielleicht. Oder irgendwann danach.

All das führt dazu, dass es in diesem Jahr somit nicht mehr als drei europäische Orbitalstarts geben wird. Das sind die beiden Abschiedsmissionen der Ariane 5, die schon stattgefunden haben, und ein Start einer Basisversion der Vega-Rakete. Von der sind noch zwei auf Lager, mehr gibt es davon nicht. Im Übrigen ist auch diese Version des europäischen Kleinträgers bei ihren letzten sechs Einsätzen zweimal gescheitert und somit kein Ausbund an Zuverlässigkeit.

Konstatieren wir: Innerhalb der kommenden zwölf Monate werden maximal die restlichen beiden Vegas der Basisversion fliegen. Selbst wenn der Erstflug der Ariane 6 – frühestens im Sommer 2024 – gelingt, und das ist bei Erstflügen in maximal 50 Prozent aller Starts der Fall –  wird sie danach im kommenden Jahr kein weiteres Mal mehr fliegen. Auch im Erfolgsfall wird es Jahre dauern, bis die Produktion auf ein vernünftiges Niveau hochläuft. Eventuelle Flugversuche der Nano- und Mikroträger-Startups, die im kommenden Jahr möglicherweise in Europa stattfinden könnten, lassen wir hier mal außen vor, denn sie leisten noch über viele Jahre keinen wesentlichen Beitrag zur europäischen Unabhängigkeit im Weltraum.

Für das Guyana Space Center selbst – dort starten Europas Trägerraketen – ist diese niedrige Startfrequenz ein echtes Problem. Viele Menschen, die dort arbeiten, könnten ihre Jobs verlieren. Hotels, Restaurants und andere Einrichtungen in Cayenne konnten in der Vergangenheit mit einem ständigen Strom an Besuchern und Startmannschaften rechnen. Menschen, die dort einkauften und übernachteten, in Kinos und Restaurants gingen. Das fällt nun weg.

Über diese verdrießliche Situation kann sich immerhin einer freuen: Elon Musk, dessen Raumfahrtunternehmen SpaceX mit verlässlicher Präzision alle Startaufträge abarbeitet, die längst von der Ariane 6 und der Vega C übernommen worden sein sollten. Noch vor zehn Jahren konnte man überhebliche Kommentare europäischer Raumfahrtmanager über SpaceX hören, die mit geschwellter Brust von den eigenen Qualitätsstarts salbaderten und prahlten, dass man in Europa eben einen Mercedes baue (und deshalb teurere Startgebühren nehmen könne) im Gegensatz zum „Billigheimer“ SpaceX, dessen Rakete vielleicht gerade noch mit einem Tata zu vergleichen wären.

So wird jetzt das damals viel geschmähte Unternehmen SpaceX Europas Generalunternehmer für Startdienstleistungen. Seien es Sentinel-Satelliten der EU, seien es militärische Aufklärer der Bundeswehr, Umweltbeobachtungssatelliten für Italien, Wissenschaftsmissionen der ESA wie zuletzt Euclid oder wie schon bald Flüge für das Galileo-System: All das fliegt jetzt bei SpaceX, weil Europas Raketen auf dem Boden bleiben.

Wie weit Europa inzwischen von der Weltspitze abgehängt ist, mag man daran erkennen, dass zum Zeitpunkt, an dem diese Zeilen entstehen, SpaceX seit Beginn des Jahres 2023 nicht weniger als 47 erfolgreiche  Orbitalmissionen geflogen hat. Im Schnitt eine alle vier Tage. Und – nur ganz nebenbei – SpaceX führte eben (Stand 8.7.23) die 205. erfolgreiche Landung eines orbitalen Boosters durch. Und was hat man vor zehn Jahren in Europa über dieses „völlig unsinnige Feature“ gelacht.

Und um nur ja keine Gelegenheit auszulassen, sich weiter möglichst schnell möglichst weit von der Weltspitze abzuhängen, beschloss gerade die Ampel-Koalition in Berlin eine massive Kürzung des deutschen Raumfahrtetats für die nächsten Jahre. So soll der deutsche Beitrag für die europäische Weltraumorganisation schon im kommenden Jahr um 80 Millionen Euro gekürzt werden.

Man hat sich wohl schon aufgegeben.


Ein Beitrag von Eugen Reichl