2023: Raumfahrt im Überfluss

Vorausgesetzt die Welt geht nicht unter können wir uns auf ein aufregendes und inhaltsreiches Raumfahrtjahr 2023 freuen und bis zu 200 Starts in den Erdorbit, zum Mond oder in den interplanetaren Raum erwarten. Fangen wir gleich mal mit der unbestrittenen Nummer eins auf dem „Raumfahrt-Parkett“ an: mit SpaceX. 2002 widmete das Unternehmen 34 seiner insgesamt 61 Missionen dem Aufbau der Starlink-Internet-Konstellation. 61 Missionen: das war ein knappes Drittel aller weltweit erfolgten Orbitalflüge. Die Raumflüge des vergangenen Jahres waren überhaupt sehr paritätisch aufgeteilt: Ein Drittel China, ein Drittel SpaceX, ein Drittel der komplette Rest der Welt.

Die Fortschritte, die das Unternehmen macht, erkennt man auch darin, dass es SpaceX im Jahre 2022 gelang, erstmals einen einzelnen Booster das 15. Mal sicher zu fliegen und sicher zu landen. Im Jahr zuvor stand dieser Rekord noch bei elf Starts und Landungen. Angetreten war das Unternehmen vor zehn Jahren mit dem Ziel, eines Tages möglicherweise zehn Wiederverwendungen pro Erststufe zu schaffen.

2023 will SpaceX bis zu 100 Missionen fliegen. Im Schnitt alle 3,5 Tage eine. Darunter sind auch zwei bemannte Einsätze für die NASA, und je eine bemannte Mission für Axiom-Space (die Mission Axiom 2) und eine für Jared Isaacmans Polaris Dawn-Programm. Letzterer Flug wird vom raumfahrttechnischen Standpunkt aus besonders interessant. Erstmals wird dabei von einem Crew-Dragon aus ein Außenbordmanöver durchgeführt. Es ist überhaupt auch das erste private EVA in der Raumfahrtgeschichte und es soll auch eine neue Rekordhöhe für Orbitalflüge erreicht werden. Der bisherige Rekord wird immer noch von Gemini 11 gehalten, die am 14. September 1969 ein Apogäum von 1.369 Kilometern erzielte.

Ein besonderes Highlight steht im April an. Dann wird der „Boeing Crewed Flight Test“ erwartet, bei dem zwei Astronauten beim bemannten Testflug des Boeing Starliners für etwa eine Woche die ISS besuchen werden. Und auch China wird in diesem Jahr mit einiger Sicherheit zwei bemannte Missionen durchführen: Shenzhou 16 und 17.

Die indische Raumfahrtagentur ISRO wird – derzeit geplant für Mai – mit den Flugtests für diverse Flugabbruch-Szenarien ihres bemannten Gangaayan-Systems beginnen. Insgesamt drei solcher Versuche, sowie ein unbemannter orbitaler Flugtest sollen dann zu einem ersten bemannten Einsatz des Gangaayan im Jahre 2024 führen. Indien ist damit das vierte Land weltweit, das ein bemanntes Raumtransportsystem entwickelt.

Von immenser Bedeutung für SpaceX, aber auch für die NASA, dürfte der Erstflug des Starship von der Starbase in Boca Chica aus sein. Für die NASA hängt die Zukunft ihres Mondlandeprogramms davon ab, für SpaceX seine wirtschaftliche Zukunft und seine Vision der Besiedelung des Mars.

Die NASA wird in diesem Jahr auch die Besatzung für die Artemis II-Mission bekanntgeben. Sie wird aus drei Amerikanern und einem Kanadier bestehen, die gegen Ende 2024 den Mond auf einer zirkumlunaren Bahn in einer neuntägigen Mission umfliegen werden.

Generell: Der Mond wird in 2023 definitiv viel Besuch bekommen, wenngleich noch ausschließlich von unbemannten Raumfahrzeugen. Und da gibt es sogar ein deutsches Highlight, denn der japanische Hakuto M1-Mondlander, der sich bereits auf dem Weg zum Erdtrabanten befindet, wurde weitgehend in Lampoldshausen bei der ArianeGroup GmbH gebaut und bei der IABG in Ottobrunn getestet.

Auf der Liste für 2023 stehen auch der IM-1 Lander von Intuitive Machines (und sogar der IM-2 Lander ist für 2023 „gemeldet“, den werden wir aber definitiv frühestens 2024 sehen). Dann hätten wir da noch den kleinen japanischen SLIM-Lander und Indiens Chandraayan 3. Auch mit dem Peregrine CLPS-Lander sollte es zeitlich klappen, doch der befindet sich beim ersten Testflug des neuen Vulcan-Rakete der United Launch Alliance (ULA) an Bord, ist also mit dem in der Raumfahrt schwerwiegenden Erstflugrisiko behaftet. Und wie jedes Jahr seit – gefühlt – dem Beginn der Kontinentaldrift, steht auch die russische Landesonde Luna 25 wieder auf dem Jahresprogramm.

Eine Reihe von Raumsonden wird in diesem Jahr zu erdfernen Gestaden aufbrechen. Da hätten wir zum einen die europäische Jupiter-Ganymed Raumsonde JUICE, die im April mit der letzten verfügbaren Ariane 5-Rakete aufbrechen wird, da hätten wir Psyche, die – ähnlich wie JUICE – auch schon im letzten Jahr hätte starten sollen, dies aber nun im Oktober dieses Jahres nachholen soll. Und schließlich wird die Landekapsel der Raumsonde OSIRIS-Rex nach siebenjähriger Expedition zum Asteroiden Bennu im September auf der Erde eintreffen. Das Mutterfahrzeug wird sich nach dem Erdvorbeiflug, bei dem sie den kleinen Lander abtrennt, weiter zum Asteroiden Apophis begeben, den sie 2029 erreichen soll. Sie wird dafür umbenannt und bekommt den Namen OSIRIS-APEX. Die europäische Raumsonde Euclid, ein Infrarot-Teleskop, soll sich im Herbst zum Lagrange-Punkt L2 begeben. Sie ist eines der Opfer des russischen Überfalls auf die Ukraine, und wurde von der Sojus 2.1b Fregat auf die Falcon 9 von SpaceX umgebucht.

Wichtige wissenschaftliche Nutzlasten des Jahres 2023 werden das große chinesische Weltraumteleskop Xuntian sein (das zunächst an der chinesischen Raumstation anlegen wird) und das japanische Röntgenteleskop XRISM, das gegen Ende des Jahres 2023 mit einer H-2A-Trägerrakete auf eine niedrige Erdumlaufbahn gebracht werden soll. Bei dieser Mission wird auch der schon erwähnte SLIM-Lander mit an Bord sein.

Wie sieht es auf dem Trägerraketensektor aus? Auch für dieses Jahr ist eine große Anzahl von Erstflügen angesagt und wie jedes Jahr seit 2020 ist auch heuer die Ariane 6 gemeldet. An dieser Stelle wette mit jedem, der sich darauf einlässt, um einen Kasten Bier, dass die Ariane 6 auch 2023 nicht den Erdboden verlassen wird. Mein Einsatz wird ein Kasten „Flötzinger Weihnachtsbock 2023“ sein. Als Gegenangebot erwarte ich dann etwas entsprechend Gehaltvolles und Süffiges, um meinen Frust damit hinunterspülen zu können. Ich räum schon mal den Keller frei um die vielen Kisten unterzubringen. 

Wesentlich bessere Chancen haben im kommenden Jahr die Vulcan der United Launch Alliance, die H3 der JAXA, das Starship von SpaceX, die Terran 1 von Relativity Space, die RS1 von ABL und die Vikram 1 von Skyroot. Knapp verfehlen wird dieses Ziel die Rocket 4 von Astra (und da liegt die Gefahr eher darin, dass die Firma pleitegeht, bevor die Rakete auf der Rampe steht), der Zero-Launcher von Interstellar Technologies und die Hyperbola 2 von iSpace. Obwohl, bei Letzterer mag ich mich täuschen.

Trotz Ankündigung nicht schaffen werden es auch in diesem Jahr die RF-One der Rocket Factory Augsburg, die Prime von Orbex, die Spectrum von Isar Aerospace, die Eris von Gilmour Space, die Skyrora XL von Skyrora und natürlich der New Glenn, die nun auch schon seit zwei Jahren überfällig ist. Es gibt noch ein paar weitere Baumuster, die in diesem Jahr ihren Erstflug angekündigt haben, aber die wollen mir grade partout nicht einfallen. Macht aber nichts, nächstes Jahr ist noch früh genug.

Noch ein Wort zu Europa, ich kann einfach nicht umhin: Immer noch, wie gefühlt seit der letzten Eiszeit, verharren die europäischen Unternehmen weitgehend in einem passiven Wartemodus in der Hoffnung, die ESA möge ihnen schon irgendwann den richtigen Auftrag für ein konkurrenzfähiges Trägersystem erteilen. Ich kann nur sagen, Leute: das wird in Europa nicht der Fall sein. Vor allem das entschlusslose, entscheidungsschwache und visionsarme Deutschland wird ein durchschlagendes institutionelles Konzept jenseits einer Phase A-Studie stets verhindern. Man gewinnt den Eindruck, dass sich Europa der massiven Krise, in der sie sich im Trägersektor befindet, überhaupt nicht bewusst ist. 

Doch das ist eine ganz andere Diskussion. Ganz zum Schluss noch die „developing story“ um Sojus MS-22. Möglich wäre hier eine Art „Rettungseinsatz“, um die Crew des beschädigten Raumfahrzeugs von der ISS abzuholen. Wir erinnern uns: Es kam da zu einem Leck in einem Kühlsystem, möglicherweise hervorgerufen durch den Aufschlag eines Stücks Weltraummüll. Nun sind Sergei Prokopjew, Dimitri Petelin und Francisco Rubio mehr oder weniger an Bord der ISS „gestrandet“ und haben keine gesicherte Heimflugmöglichkeit mehr. Man kann gespannt sein, welche kreative Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem ersonnen werden.


Ein Beitrag von Eugen Reichl