Zwischen den Jahren: Rückblick auf 2022

Wie schon in den vergangenen Jahren bringen wir auch heuer an dieser Stelle eine Rückschau auf die vergangenen zwölf Monate. Ihr wird – etwa um den 7. Januar – eine Vorschau auf die Raumfahrtereignisse des Jahres 2023 folgen. Beginnen wir mit Europa, und wieder  einmal ist es nicht erfreulich, was wir hier sehen, denn…


…bedauerlicherweise ist es „Guter Brauch“ für europäische Trägerraketen, bei ihren ersten Missionen zu scheitern. Der Erstflug der Ariane 1, im Dezember 1979 hatte, damals zur Überraschung aller Beteiligten, noch perfekt geklappt. Doch man freute sich zu früh, denn im Mai 1980 schlug Mission Nummer zwei fehl und Flug Nummer fünf gleich noch einmal. Auch der Erstflug der Ariane 2/3 (dabei handelte es sich um zwei Varianten desselben Subtyps) scheiterte im Mai 1986. Bei der Ariane 4 kam der erste Fehlschlag immerhin erst bei Mission Nummer acht.

Legendär der Erstflug der Ariane 5G im Juni 1966. Er endete 66 Sekunden nach dem Liftoff in einer spektakulären Explosion über dem Dschungel von Französisch Guyana. Auch den zweiten Flug der Ariane 5 konnte man nur mit sehr gutem Willen als Teilerfolg einstufen. Dasselbe Schicksal wie die Ariane 5G teilte auch die erste Ariane 5 ECA im Dezember 2002, die nach drei Flugminuten wegen einer fehlerhaften Konstruktion der Expansionsdüse des Vulcain-Triebwerks vom Kurs abkam und vom Sicherheitsoffizier gesprengt werden musste.

Die oft vollmundig geäußerte Behauptung der Arianespace, die zuverlässigsten Trägerraketen der Welt zu bauen (und damit die „High-End-Preise“ zu rechtfertigen), stimmte nie wirklich.

Bei der Vega – im Dienst seit dem Jahr 2012 – schien die europäische „Erstflugschwäche“ endlich überwunden zu sein. Die ersten 14 Missionen verliefen fehlerlos. Doch dann begann das Desaster seinen Lauf zu nehmen. Mission 15, es war die erste, die voll unter der Eigenverantwortung der Avio S.p.A. lief, also erstmals ohne die Aufsicht durch die ESA, scheiterte im Jahr 2019. Im Jahr drauf schlug auch der Flug Nummer 17 fehl. Und am 21. Dezember 2022 passierte dem zweiten Flug der Vega C genau dasselbe. Zwei teure Satelliten der Pléiades-Konstellation wurden im Atlantik versenkt.

Airbus hatte dabei das Pech, mit seinen Nutzlasten in alle drei Vega-Abstürze involviert zu sein. Dabei gingen die Satelliten Falcon-Eye 1, Taranis, SEOSat-Ingenio und nun Pléiades Neo 5 und 6 verloren.


Generell war das Jahr 2022 keine gute Zeit für Kleinträger. Sämtliche Fehlstarts des Jahres gingen auf ihr Konto. Neben dem Verlust der Vega C verzeichnete auch die Astra 3.3 bei ihrem ersten und dritten Flug jeweils Fehlstarts. Der dritte Flug der Hyperbola 1 schlug fehl, der Erstflug der indischen SSLV ebenso, der sechste Start der japanischen Epsilon und der Erstflug der chinesischen Zhuque 2. Und der US-Kleinträger Alpha erzielte bei seinem zweiten Testflug (der erste war bereits vor einem Jahr gescheitert) nur einen so niedrigen Orbit, dass er unter normalen kommerziellen Einsatzbedingungen im besten Fall als „Teilerfolg“ gewertet worden wäre. Zusammenfassend zeichnet sich ein Bild bei den Herstellern von Kleinraketen ab, das man als „understaffed“, „overworked“ und bezüglich ihrer produzierten Hardware als „undertested“ zusammenfassen könnte.


Betrachtet man die „Key Performance Indicators“ weltweit, dann gewann man 2022 den Eindruck, als würden nur die USA und China so richtig Raumfahrt betreiben. Diese beiden Nationen haben sich längst von der übrigen Welt abgekoppelt. Russland fällt seit Jahren weiter zurück, und der Krieg, den das Land angezettelt hat, wird zum weiteren Abstieg Russlands beitragen. Die weltweit bedeutendsten Raumfahrtfirmen sind SpaceX, das mit immer größerem Abstand zum Rest der Welt führt, es sind die United Launch Alliance und Northrop Grumman bei den Amerikanern und die CAST (China Academy of Space Technology) und die SAST (Shanghai Academy of Spaceflight Technology) auf chinesischer Seite.

Einen beträchtlichen Anteil seiner enormen Startkapazität verwendete SpaceX für den Aufbau der Starlink-Konstellation. Kleine Trivia am Rande: Wussten Sie, dass das Betriebssystem der Starlink-Satelliten auf Linux basiert? Die Anzahl der installierten Starlink-Terminals überstieg in diesem Jahr die 1-Millionen-Grenze. Im Kielwasser von Starlink kam in diesem Jahr übrigens schon nächste Space-Mega-Idee von Elon Musk auf den Plan: „Starshield“. Eine Art Militärvariante von Starlink. Der erste Prototyp dafür wurde in diesem Jahr schon gestartet.

Erst vor wenigen Wochen erhielt SpaceX die Genehmigung von der Federal Aviation Administration (FAA)  die ersten 7.500 Satelliten der Starlink 2.0-Reihe in den Orbit zu bringen.  Diese Einheiten sind wesentlich massiver und größer und wesentlich leistungsfähiger als ihre Vorläufer. Sie werden pro Stück etwa 1,3 Tonnen wiegen (gegenüber 300 Kilogramm für die derzeitigen Starlinks). Um diese Einheiten zu tausenden zu stationieren, wird das Starship unabdingbar notwendig werden. Elon Musk braucht es unbedingt. Nicht nur für seinen NASA-Auftrag für den Mond, nicht nur für die Realisierung seiner Träume für den Mars, sondern auch ganz schlicht um wirtschaftlich im Erdorbit zu überleben, denn Elon Musk setzt weiterhin voll auf exponentielles Wachstum im Weltraum.

Dank der Wiederverwendbarkeit seiner Falcon 9-Booster und der Fließbandfertigung seiner Falcon 9-Zweitstufen konnte SpaceX an einem kritischen Punkt einspringen. Als Russland die Ukraine überfiel, endete damit schlagartig der westliche Zugriff auf die russische Sojus-Rakete. SpaceX war aber problemlos in der Lage, seine Startfrequenz innerhalb kürzester Zeit anzupassen und OneWeb, der ESA (die in besonderem Maße  von russischer Unterstützung abhängig war) und anderen Institutionen und Nationen bei Startanforderungen aus der Patsche zu helfen, die sich aus dem Krieg ergaben.

Anfang des Jahres hatte SpaceX für das Jahr 2022 die Durchführung von bis zu 60 Orbitalstarts angekündigt. Diese Zahl war am 28. Dezember 2022 tatsächlich erreicht, als eine Falcon 9 mit 54 Starlink-Satelliten zur Mission Starlink 5-1 startete, und wurde gleich zwei Tage später, am 30. Dezember, mit dem Start des israelischen Erdbeobachtungssatelliten EROS-C3 sogar noch übertroffen. Wäre SpaceX eine eigenständige Raumfahrtnation, sie läge nur knapp hinter China (das 2022 64 Starts absolvierte) auf Platz 2 in der Anzahl der durchgeführten Missionen. Zum Vergleich: Ganz Europa führte in diesem Jahr fünf Starts durch, von denen obendrein einer fehlschlug.

2023 will SpaceX seine Startfrequenz noch einmal deutlich steigern, und es womöglich bis auf 100 Orbitalmissionen bringen. Das war bis vor wenigen Jahren die Zahl sämtlicher weltweit erfolgten Orbitalstarts.

Wenn es überhaupt einen Negativpunkt bei SpaceX im Jahr 2022 gibt, dann ist es die Verzögerung beim Starship und der Super Heavy. Ihr Erstflug war für dieses Jahr als sicher gesetzt worden, fand aber nicht statt. Es ist zu beobachten, dass das Unternehmen sein Vorgehen bei den Tests geändert hat und nunmehr wesentlich vorsichtiger vorgeht als früher. Das hat wohl auch damit zu tun, dass sich an der Starbase in Texas immer mehr wertvolle Infrastruktur ansammelt, die man nicht so ohne weiteres aufs Spiel setzen will.


Und nun einige meiner persönlichen Highlights des vergangenen Jahres:

  • DAS Raumfahrtereignis schlechthin im Jahre 2022 war der Erstflug des Space Launch Systems mit dem Artemis-Mondraumschiff an der Spitze im November und Dezember. Bei einem weitgehend fehlerfrei verlaufenen, gut 25-tägigen Testflug wurde das bemannte Raumtransportsystem des US-Artemis-Programms erprobt.
  • Das Schock-Ereignis des Jahres 2022, auch in der Raumfahrt, war der Überfall Russlands auf seinen ukrainischen Nachbaren. Eine der zahlreichen negativen Folgen dieser Irrsinnstat bestand darin, dass der ExoMars-Lander „Rosalind Franklin“ die nächsten Jahre weiter auf der Erde bleiben wird, wenn nicht gar für immer.
  • Einer der wenigen Lichtblicke für die europäische Raumfahrt bestand darin, dass Samantha Cristoforetti für einige Wochen als Kommandantin der Internationalen Raumstation fungierte. Sie war damit die erste europäische Frau in dieser Rolle.
  • Für die interplanetare Raumfahrt war der „Double Asteroid Redirection Test (oder kurz: DART)“ ein (ein-)schlagender Erfolg. Es gelang damit den Asteroiden Dimorphos geringfügig aus seiner Bahn zu werfen. Seine Umlaufbahn um die Sonne konnte so um 73 Sekunden verkürzt werden. Die Mission ist ein wichtiger Beitrag zur Abwehr von Asteroiden, deren Einschlag auf der Erde droht.
  • Das James-Webb-Space-Telescope nahm im Juli seinen Dienst auf, lieferte von Beginn an einen Strom sensationeller Daten, und erfüllte somit alle Erwartungen, die an das Gerät gestellt worden waren.
  • China stellte im November seine nationale Raumstation in der ersten Phase fertig. Sie ist nun der zweite permanent besetzte Außenposten der Erde.
  • Die Axiom 1-Mission zwischen dem 8. und 25 April gab einen Vorgeschmack darauf, wie die Nutzung privater orbitaler Raumstationen in Zukunft aussehen kann. Drei Privatleute und ein Ex-NASA-Astronaut unternahmen eine vollständig privat bezahlte Forschungsmission zur ISS und wickelten dort ein eigenes Forschungsprogramm ab. Axiom Space will ab 2025 nach und nach mehrere private Module an der ISS andocken und sie nach der Außerdienststellung der ISS irgendwann in den frühen 30er-Jahren von da abkoppeln und dann als eigenständige private Raumstation betreiben.
  • Und der japanische Milliardär Yusaka Maezawa gab am 8. Dezember die Zusammensetzung seiner achtköpfigen Crew für die von ihm geplante zirkumlunare Mondmission mit einem SpaceX Starship bekannt. Das Flugdatum steht allerdings noch nicht fest. Es dürfte noch einige Jahre in der Zukunft liegen. Das (für die Raumfahrtgemeinde) bekannteste Mitglied der ausgewählten Passagiere dürfte wohl Tim Dodd sein, der die weltweit bedeutendste Raumfahrt-Youtube-Plattform „Everyday Astronaut“ betreibt.

Noch einmal zurück nach Europa. Was Trägerraketen angeht ist Europas Raumfahrt ein Scherbenhaufen. Der einzige zuverlässige europäische Träger, die Ariane 5 ECA, wird 2023 noch zweimal starten. Danach ist dieses Programm Geschichte. Bei ihrem letzten Einsatz wird die Ariane 5 im April die Raumsonde JUICE zum Jupiter schicken. Das dürfte dann auch schon das Highlight des europäischen Raumfahrtjahres 2023 werden. Wenn alles gutgeht.

Der Erstflug des Nachfolgers, die Ariane 6, wird sich wieder einmal um ein Jahr verschieben. Eigentlich sollte diese Rakete schon seit 2020 im Einsatz sein. Dann wurde der Erstflug auf 2021 terminiert, schließlich auf 2022. Dieses Mal soll es 2023 sein. Aber es wäre keine Überraschung, wenn auch das wieder eine Fehlprognose ist. Nutzlasten, die für diesen Zeitraum für die Ariane 6 gebucht waren, wandern derzeit automatisch zu SpaceX hinüber, das sich vor Startaufträgen kaum noch retten kann.

Auch bei den prominent angekündigten europäischen Kleinträgern sieht es nicht rosig aus. Auch hier bewegen sich die Startdaten Jahr für Jahr weiter nach rechts auf der Zeitleiste. Das einzige Unternehmen, das heuer zumindest einen suborbitalen Startversuch wagte war Skyrora mit ihrer Skylark L. Aber dieser „Flug“ sah schon sehr beschämend aus. Die Rakete bewegte sich unmittelbar nach dem Abheben in einem Bogen in Richtung Meer, wo sie 500 Meter von der Startrampe entfernt einschlug.

Und die Vega C? Wie es mit der weitergeht ist derzeit unklar. Wie in Europa üblich werden Fehleranalyse und Fehlerbeseitigung lange Zeit in Anspruch nehmen. Aber Europa hat keine andere Wahl, als bei der Vega zu bleiben, will es sich seine Unabhängigkeit im Zugang zum Erdorbit in der unteren Mittelklasse bewahren. Avio wird wahrscheinlich nicht umhin kommen, einen weiteren Testflug – höchstens mit einer Dummy-Nutzlast bestückt – anzusetzen, um das Vertrauen der verstörten Kunden zurückzugewinnen. Dumm nur, dass Europa bei der Vega zusätzlich auch noch den Fehler gemacht hat, auf Beistellungen außereuropäischer Länder zu setzen anstatt dieses doch eher anspruchslose Fluggerät vollständig mit EU-Komponenten zu entwickeln. Weil man wieder einmal zu geizig war, etwas vernünftig und aus einem Guss zu machen, stammen nun wesentliche Komponenten der vierten Stufe der Vega ausgerechnet aus der Ukraine. Lieferstatus unklar. Wieder mal schlecht gelaufen für Europa.


Ein Beitrag von Eugen Reichl